Fatigue: Interview mit Dr. Martina Schmidt zum Thema krebsbezogener Erschöpfung und MERLIN-Studie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg
Wie Forschung das Verständnis für Fatigue bei Krebs verbessern kann
Während und nach der Krebsbehandlung sind viele Menschen mit Krebs körperlich und emotional erschöpft. Sie sind kraftlos und die anhaltende Müdigkeit ist mit Schlaf nicht zu verbessern. Dieser Zustand nennt sich Fatigue Syndrom oder auch krebsbezogene Erschöpfung.
Erkenntnisse aus der Fatigue-Forschung finden bereits heute Einzug in die klinische Praxis, um die Versorgung von Menschen mit krebsbedingter Erschöpfung zu verbessern. So sind Sport und achtsamkeitsbasierte Bewegungsformen sowie psychosoziale Unterstützung wichtige Säulen in der Behandlung des Fatigue Syndroms geworden.
Dr. Martina Schmidt ist koordinierende Studienleiterin der MERLIN-Studie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, die eine Datengrundlage schaffen soll, wie ein Fatigue Screening bei Krebs idealerweise aussehen muss, um langfristig eine Fatigue Früherkennung in der klinischen Praxis zu ermöglichen.
Vorstellung Frau Dr. Martina Schmidt
Frau Dr. Schmidt, vielen herzlichen Dank, dass Sie sich bereiterklärt haben, ein Interview zu krebsbezogener Fatigue und der MERLIN-Studie des DKFZ zu führen. Bitte stellen Sie sich kurz vor.
Dr. Schmidt: Mein Name ist Martina Schmidt, ich bin langjährige Epidemiologin und arbeite am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in der Abteilung Bewegung, Präventionsforschung und Krebs.
Wir untersuchen bereits seit vielen Jahren das Themenfeld Sport und Bewegung in Zusammenhang mit der Primärprävention.
Ein wichtiger Teil unserer Arbeit besteht seit 15 Jahren nun auch darin, die Zusammenhänge und Vorteile von Bewegung bei Krebspatientinnen und Krebspatienten zu untersuchen. Wir beobachteten in Studien, dass Bewegung und Sport unter anderem in der Behandlung von Fatigue sehr wirksam sind. Wir haben hierbei jedoch gemerkt, wie wenig rund um Fatigue bei Krebs noch verstanden ist und dass die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Fatigue stark verbesserungswürdig ist.
An diesem Umstand möchten wir etwas ändern und durch unsere Studien dazu beitragen, das Verständnis über Fatigue zu vertiefen, aber auch die Versorgung der von Fatigue Betroffenen zu verbessern und neue Therapiemöglichkeiten zu finden.
Fatigue bei Krebs: Was ist Fatigue und wie äußert sie sich?
Das ist eine sehr wertvolle Arbeit und große Aufgabe. Es gibt viel Aufklärungsbedarf rund um die Fatigue und vielen Betroffenen ist oft nicht bewusst, was eine Fatigue ist. Damit sind wir schon mitten im Thema:
Was genau ist eigentlich Fatigue?
Dr. Schmidt: Wissenschaftlich betrachtet wurde Fatigue von der NCCN (National Comprehensive Cancer Network) als „belastendes und subjektiv wahrgenommenes Empfinden einer extremen körperlichen, emotionalen und/oder geistigen Erschöpfung“ definiert, die über längere Zeit anhält, die Betroffenen belastet, in ihrem Alltag beeinträchtigt und nicht auf andere körperliche oder mentale Ursachen zurückzuführen ist.
Das große Problem der Fatigue ist, dass es keine Blutparameter oder eindeutige, objektive Messkriterien gibt, die belegen, dass es sich um eine Fatigue handelt. Fatigue ist auch keine ja/nein Entscheidung. Bei einem Arm kann man ein Röntgenbild anfertigen und sagen „ja, der Arm ist gebrochen oder nein, er ist nicht gebrochen.“ Fatigue hingegen ist eine komplexe Nebenerscheinung der Krebserkrankung oder -behandlung, die in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung auftreten kann, der wahrscheinlich auch verschiedene Ursachen und Wirkmechanismen zugrunde liegen.
Wer ist betroffen von Fatigue? Gibt es Unterschiede in Geschlechtern, Lebensweisen Krebsarten, oder Therapieformen?
Dr. Schmidt: Im direkten Zusammenhang mit Krebs spielt vor allen Dingen die Therapie-Art der Betroffenen eine große Rolle. Fatigue tritt besonders stark mit oder nach der Chemotherapie auf und hält dann häufig länger an. Auch bei Immuntherapien, beispielsweise mit Checkpoint-Inhibitoren, tritt oftmals Fatigue auf. Generell kann eine Fatigue jedoch immer auftreten, egal ob Strahlen-, Chemo-, Immun- oder eine andere Therapieart und sogar wenn keine Therapie durchgeführt wird.
Frauen berichten tendenziell höhere Fatiguewerte als Männer, aber nicht nur bei Menschen mit Krebs, sondern auch in der Allgemeinbevölkerung. Dazu wurden Befragungen mit denselben Fatigue-Fragebögen durchgeführt, die auch Krebspatienten vorgelegt werden, um Vergleichswerte der Allgemeinbevölkerung zu ermitteln. Es ist jedoch nicht klar zu sagen, ob Männer Erschöpfung anders empfinden als Frauen. Auch steigt die Erschöpfung generell mit dem Alter und übergewichtige oder adipöse Menschen neigen eher zu Fatigue als normalgewichtige.
Das bedeutet also, Neu-Betroffene müssen sich keine Sorgen machen, dass sie garantiert unter Fatigue leiden werden? Eine Fatigue kann unter der Therapie auftreten, aber es ist nicht immer der Fall, oder?
Dr. Schmidt: Es tritt nicht immer Fatigue auf und wenn doch, ist es unterschiedlich, wie lange sie anhält. Glücklicherweise klingt die Fatigue oft nach der Therapie innerhalb weniger Monate ab.
In klinischen Studien berichteten jedoch etwa ein Viertel bis ein Drittel der Patientinnen und Patienten, dass sie auch lange, zum Teil mehrere Jahre, nach Therapieende immer noch unter Erschöpfung leiden.
Wir haben in Studien gesehen, dass viele Faktoren Einfluss auf das Auftreten und die Ausprägung von Fatigue bei Krebs haben. Beispielsweise gehen depressive Symptome, Stress oder Ängstlichkeit oft mit einer länger andauernden und stärkeren Fatigue einher.
Fatigue ist eine komplexe und nicht einfach zu verstehende Nebenerscheinung bei Krebs und wird von Betroffenen und ihrem Umfeld oft nicht als solche wahrgenommen. Können Sie bitte ein Beispiel nennen:
Wie äußert sich eine Fatigue bei Krebs im Alltag von Betroffenen?
Dr. Schmidt: Wir haben immer wieder Gespräche auch mit Patientinnen und Patienten, die die Krebstherapien schon lange hinter sich gelassen haben und als geheilt gelten. Sie beschreiben die Fatigue bei Krebs als extremes Gefühl der Kraftlosigkeit und dass sie überhaupt keine Energie mehr haben, um ihren Alltag zu bewältigen. Eine junge Frau berichtete beispielsweise, dass sie vor ihrer Krebserkrankung immer wahnsinnig energiegeladen war und bei Aktivitäten immer lange voll dabei war und Feste gefeiert hat. Nach dem Krebs hoffte sie, es wäre bald wieder vorbei mit der Müdigkeit, aber ihre Energie kam nicht wieder. Sie fühlte sich auch ohne körperliche Belastung müde, kraft- und energielos. Das war nicht nur körperlich, sondern auch auf der emotionalen Ebene der Fall.
Einige Krebskranke beschreiben die Fatigue auch als „in Zeitlupe leben“. Oft wird berichtet, dass sie Gedächtnisprobleme haben und sich vieles aufschreiben müssen, weil sie es sich nicht mehr merken können.
Ganz klassisch beschreiben Menschen mit oder nach Krebs, die an Fatigue leiden, dass sie ihren Alltag kaum noch bewältigen können. Sie müssen sich über den Tag hinweg ihre Energie genau einteilen und auf vieles verzichten, um ihre Kräfte nicht überzustrapazieren
Wie wird Fatigue bei Krebs von Betroffenen beschrieben?
- Extremes Gefühl der Kraftlosigkeit, körperlich, emotional und/oder geistig
- Fehlende Energie
- Starke Müdigkeit und Erschöpfung, die sich nicht mit Erholung und Schlaf beheben lässt.
- Gefühl, als würde der Alltag in Zeitlupe ablaufen
- Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme
- Energie muss sehr genau eingeteilt werden, um durch den Tag zu kommen.
- Der Alltag kann alleine kaum bewältigt werden
Stellen Sie diese Anzeichen bei sich selbst fest, sprechen Sie dies bei Ihrem Behandlungsteam an.
Fatigue ist eine Folgeerscheinung, die viele krebskranke Menschen betrifft. Die Diagnose Krebs ist an und für sich schon extrem belastend und erschöpft Betroffene und ihre Angehörigen.
Was ist der Unterschied zwischen einer Fatigue bei Krebs und beispielsweise Müdigkeit oder der psychisch herausfordernden Situation durch die Krebsdiagnose selbst?
Dr. Schmidt: Der Unterschied ist eben diese Erschöpfung, die sich mit Schlaf und Erholung nicht beheben lässt. Die Krebsdiagnose selbst, als lebensbedrohende Erfahrung verbunden mit vielen Ängsten und Sorgen, kann natürlich auch eine Ursache oder ein Faktor sein, der zur Fatigue beiträgt.
Da Fatigue keine einheitlich definierten Diagnosemöglichkeiten und -kriterien hat, ist die Abgrenzung zu anderen Erkrankungen mit ähnlicher Symptomatik, wie beispielsweise einer Depression, oft schwierig. Grundsätzlich lässt sich jedoch sagen, wenn sich eine Patientin oder ein Patient durch die Müdigkeit und Erschöpfung extrem belastet und im Alltag eingeschränkt fühlt, und sich das nicht durch ausreichend Ruhe oder Schlaf in den Griff bekommen lässt, handelt es sich um Anzeichen für Fatigue. Spüren Betroffene also diese extreme Erschöpfung und Belastung, sollten sie das unbedingt bei ihrem Behandlungsteam ansprechen.
Ein großes Problem, das wir von vielen Betroffenen gehört haben, ist das unzureichende Wissen und fehlende Bewusstsein für die Häufigkeit des Auftretens einer Fatigue als Nebenerscheinung der Krebserkrankung.
Nach einer Befragung mit 2.500 Patientinnen und Patienten zur krebsbezogenen Erschöpfung riefen uns Teilnehmende an und sagten uns: „Ich wusste gar nicht, dass andere auch betroffen sind und darunter leiden, ich bin ja gar nicht alleine damit“. Viele Menschen berichten auch, dass es an Verständnis im Umfeld mangelt. Ihre Angehörigen können nicht nachvollziehen, wie es ihnen trotz abgeschlossener Therapie so schlecht gehen kann und reden ihre Beschwerden klein, weil sie den Unterschied zwischen einer einfachen Müdigkeit und Fatigue nicht kennen.
Als Angehöriger einer krebskranken Person oder als von Fatigue Betroffener ist es daher gut zu wissen, dass es sich um eine Folgeerscheinung der Krebstherapie handelt, mit der sie nicht alleine sind. Und vor allen Dingen ist es gut zu wissen, dass sie ihre Beschwerden ansprechen sollten, um Hilfe in Anspruch nehmen zu können.
Es ist sehr mutmachend zu wissen, dass es anderen auch so geht und man nicht alleine mit den Beschwerden ist und sich gar als zu empfindlich fühlt, nicht wahr?
Dr. Schmidt: Ja, das ist richtig. Man muss es ganz klar aussprechen: Es ist ein Symptom, das wirklich existiert, viele betrifft und gegen das man etwas tun kann und auch sollte. Das zu wissen hilft schon viel.
Gibt es denn Anzeichen, wie Dauer, Stärke, oder ähnliche Kennzahlen, die eindeutig auf eine Fatigue bei Krebs deuten?
In welchen Fällen oder bei welchen Anzeichen sollten Betroffene aufmerksam werden und eine mögliche Fatigue bei ihrem Behandlungsteam ansprechen?
Dr. Schmidt: Ich würde grundsätzlich jeden ermutigen, das Thema Fatigue bei Krebs anzusprechen, wenn die Erschöpfung Leiden verursacht, sehr beeinträchtigt und man den Alltag nicht mehr meistern kann.
Natürlich ist es unter der Chemotherapie nicht ungewöhnlich, erschöpft und müde zu sein. Aber wenn jemand das Gefühl hat „ich komme aus dieser Erschöpfung nicht mehr raus“ und sie das Leben beeinträchtigt, ist Handeln gefragt. Denn auch während der Therapie gibt es Möglichkeiten, einzugreifen und die Situation zu verbessern. Das kann beispielsweise Bewegung in Form eines angeleiteten Kraft-/Ausdauertrainings oder Yoga sein, aber auch Entspannungsverfahren oder psychosoziale Unterstützung, um den Alltag besser zu bewältigen.
Diagnose und Behandlung der Fatigue bei Krebs
Um eine Erkrankung festzustellen, gibt es verschiedene Diagnoseverfahren und häufig ein Standard-Vorgehen. Für Fatigue ist das ja nicht möglich, da es keine klinischen Messmethoden, Blut-Tests oder Standard-Verfahren gibt, um eine Diagnose zu stellen.
Wie wird die Fatigue Diagnose gestellt?
Dr. Schmidt: Eines der Probleme ist neben der Komplexität der Fatigue, dass es keine offiziellen Diagnosekriterien gibt und dass Fatigue bei Krebs auch noch nicht als eigenständige Diagnose in die internationale Klassifikation von Krankheiten (ICD) aufgenommen wurde, was unter anderem die Abrechnung mit Krankenkassen erschwert.
Als Hilfestellung für die Einschätzung, ob Fatigue vorliegt, gibt es Listen mit diversen diagnostischen Kriterien, wie beispielsweise extremes Gefühl der Kraftlosigkeit, extremes Ruhebedürfnis ohne vorangegangene Anstrengung, Gedächtnisbeschwerden, Aufmerksamkeitsprobleme oder emotionale Beeinträchtigungen.
Anhand dieser Checklisten und wenn eine gewisse Anzahl der Symptome seit längerer Zeit täglich oder fast täglich andauern und Leiden verursachen, ist für Ärztinnen und Ärzte ableitbar, dass es sich um Anzeichen für Fatigue handelt.
Andere Verfahren sind sogenannte Screeningverfahren, wie beispielsweise Skalen von „0=überhaupt keine Erschöpfung bis 10=extreme Erschöpfung“ anhand derer sich Betroffene selbst einschätzen können. Bei Werten von 4 oder größer sollte abgeklärt werden, wie belastend die Situation ist, ob die Erschöpfung erst nach der Krebserkrankung aufgetreten ist und wie stark sie den Alltag belastet.
Gibt es neben den Screenings und Fragebögen auch andere Untersuchungen, die bei Verdacht auf Fatigue bei Krebs gemacht werden sollten?
Dr. Schmidt: Wichtig ist, unbedingt abzuklären, ob es andere Ursachen gibt, die Einfluss auf die krebsbezogene Erschöpfung haben können. Dies empfehlen auch die internationalen klinischen Leitlinien.
Blutuntersuchungen können Erkenntnisse über eventuelle andere Ursachen der Müdigkeit liefern. Es könnten beispielsweise eine Anämie (Blutarmut, Mangel an rotem Blutfarbstoff/Hämoglobin) oder eine Schilddrüsenproblematik vorliegen, aber auch psychische Störungen wie Depressionen sollten abgeklärt werden. Außerdem sollte das Vorliegen von Mangelernährung und Nährstoffmängeln abgeklärt werden, die gerade bei Tumoren im Magen-Darmtrakt auftreten können. Starke Schmerzen sowie Schlafstörungen können auch zur Fatiguesymptomatik führen. Viele Faktoren können also zu Erschöpfung beitragen und sollten in diesem Fall symptomatisch behandelt werden.
Was Betroffene und ihre Behandlungsteams ebenfalls bedenken sollten, sind mögliche Wechselwirkungen von Medikamenten. Wir haben beispielsweise in einer Studie mit Brustkrebspatientinnen, die ein Schilddrüsenmedikament nehmen, beobachtet, dass sie unter der Chemotherapie deutlich mehr Fatigue entwickelten als Patientinnen ohne diese Medikamente. Die Chemotherapie führte vermutlich dazu, dass die Dosis des Schilddrüsenmedikamentes nicht mehr optimal angepasst war. Solche Faktoren sollten ebenfalls überprüft werden, ob sie ursächlich für die Erschöpfung sind.
Diese möglichen Ursachen sollten Sie und Ihr Behandlungsteam beachten:
- Blutarmut/Anämie: Mangel an rotem Blutfarbstoff (Hämoglobin)
- Schilddrüsenfehlfunktion
- weitere hormonelle Ursachen
- psychische Faktoren wie Depressivität
- Schlafstörungen
- Schmerzen
- Nährstoffmängel
- Wechselwirkungen zwischen Medikamenten
- eventuell nötige Dosisanpassungen von Medikamenten
Das heißt, Betroffene sollten ruhig aktiv nachfragen und auf Abklärung ihrer Beschwerden bestehen?
Dr. Schmidt: Ja, es ist immer gut, mögliche Ursachen auf den Prüfstand zu stellen. Während der Krebstherapie sollte der Blutstatus ohnehin vorliegen, aber die genannten möglichen Einflussfaktoren sollten Betroffene bei belastender Erschöpfung auf jeden Fall bei ihrem Behandlungsteam ansprechen, insbesondere wenn ihre Beschwerden nach der Krebstherapie länger andauern.
Gibt es einen Unterschied in der Prognose oder Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit, ob die Fatigue Diagnose früher oder später gestellt wird?
Dr. Schmidt: An erster Stelle ist wichtig zu sagen, dass Fatigue kein Zeichen für ein Fortschreiten der Krebserkrankung ist. Diese Information nimmt vielen Betroffenen eine große Sorge.
Früh zu wissen, dass es sich um eine Fatigue handelt und nicht eine Müdigkeit, die sich mit Erholung beseitigen lässt, hilft Betroffenen dabei, aktiv zu werden.
Häufig neigen erschöpfte Menschen mit Krebs dazu, sich nicht mehr zu bewegen und im Bett liegen zu bleiben ohne zu wissen, dass die Fatigue sich dadurch nicht bessert. Unternehmen sie nichts dagegen, führt dies zu einer Verstärkung der Fatigue und einem Abbau der körperlichen Leistungsfähigkeit, was in noch mehr Schwäche und Erschöpfung resultiert – ein wahrer Teufelskreis für Betroffene. Denn diese Situation verstärkt auch die emotionale Belastung. Deshalb ist es immer gut, die Fatigue möglichst früh anzugehen.
Aber grundsätzlich gilt: Je früher die Diagnose gestellt wird, desto besser – aber lieber spät, als nie!
Die Diagnose Fatigue bei Krebs ist gestellt. Was passiert jetzt? Ist es notwendig Ernährungsgewohnheiten und den Lebenswandel zu ändern?
Dr. Schmidt: Studien zeigen, dass Krebsüberlebende, sowohl während als auch längere Zeit nach der Therapie, von einem aktiven Lebenswandel profitieren. Fatigue-Betroffenen empfiehlt sich also ein aktiver Lebenswandel mit regelmäßiger Bewegung, Sport oder Yoga. Auch psychosoziale Unterstützung ist für viele Betroffene hilfreich.
Übrigens gibt es hier einen Unterschied zwischen dem chronischen Fatigue Syndrom (ME/CFS) oder Fatigue nach einer COVID-Infektion und Fatigue bei Krebs. In den ersten beiden Fällen zeigen Studien, dass es Betroffenen nach körperlichen Anstrengungen meist schlechter geht. Bei krebsbezogener Fatigue hingegen ist dies nicht Fall.
Auch wenn es zunächst paradox klingt: Körperliche Aktivität und Sport helfen Betroffenen gegen die Erschöpfung. Das Training darf auch ruhig ein moderates bis anstrengendes Kraft-Ausdauertrainingsprogramm sein. Auch Yoga oder andere achtsamkeitsbasierte Bewegungsangebote zeigen gute Effekte.
Außerdem sollen sich von Fatigue betroffene Krebspatientinnen und -patienten nicht scheuen, psychosoziale Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie erhalten dabei Unterstützung bei Bewältigungsstrategien für den Alltag, dem Annehmen der Erschöpfung, sowie beim Umgang mit psychischen Belastungen und Stress, die mit der Fatigue einhergehen.
Es gibt viele Möglichkeiten und Betroffene müssen die Fatigue nicht aushalten, sondern dürfen sämtliche Angebote in Anspruch nehmen, um die Fatigue zu überwinden oder lernen mit ihr umzugehen und Lebensqualität zurückzugewinnen.
Sie sagen, Bewegung und Sport sind eine wichtige Säule in der Behandlung von Fatigue bei Krebs:
Wieviel Sport ist gut, gibt es empfohlene Programme oder Sportarten?
Dr. Schmidt: Verschiedene Studien sowie Leitlinien für Menschen mit Krebs geben unabhängig von der Fatigue Empfehlungen für Bewegung und Sport, an denen sich auch von Fatigue Betroffene orientieren können. Die generelle Empfehlung, die idealerweise anzustreben ist, sind 3x wöchentlich ca. 30 Minuten moderates Ausdauertraining, sowie 2x wöchentlich moderates Krafttraining. Beides kann natürlich auch kombiniert werden. Auch Yoga, das in Studien vielfach als hilfreich bei Erschöpfung belegt wurde, kann sowohl zu einem verbessertem Körpergefühl als auch zur Aufrechterhaltung oder sogar Steigerung körperlicher Fitness beitragen.
Insbesondere bei starker Fatigue oder wenn Betroffene mit verschiedenen Nebenwirkungen während der Therapie konfrontiert sind, wirken diese Empfehlungen zunächst einmal unrealistisch und machen vielleicht sogar Druck oder Angst. Dann ist es natürlich wichtig, die Aktivität an die eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten anzupassen. Jedoch ist auch in diesem Fall ein bisschen körperliche Bewegung besser als keine. So kann z.B. ein kleiner Spaziergang mit einer Freundin oder dem Partner schon dabei helfen, etwas Bewegung in den Tag zu bekommen.
Generell sollte das längerfristige Ziel aber sein, 3x wöchentlich Ausdauer und Muskeln zu trainieren. Welche Sportart betrieben wird, ist Geschmackssache, Hauptsache es macht Spaß, dann kommt die Routine von alleine.
Sie erwähnten bereits die psychische Belastung durch die Fatigue bei Krebspatientinnen und Krebspatienten.
Welche psychosozialen Angebote können Betroffene in Anspruch nehmen?
Dr. Schmidt: Das ist richtig. Psychosoziale Unterstützung hilft Betroffenen dabei, über die Belastung zu sprechen, ein besseres Verständnis über die individuelle Erschöpfungssymptomatik zu erlangen und Strategien zu finden, wie sie ihren Alltag mit der Erschöpfung gestalten können. Patientinnen und Patienten werden hier auch im Umgang mit oftmals begleitenden Ängsten und Sorgen oder Stress unterstützt. Psychosoziale Unterstützung wird beispielsweise in psychosozialen Krebsberatungsstellen, bei psychoonkologischen Diensten in Kliniken oder in Psychotherapie-Praxen angeboten. Insbesondere Kognitive Verhaltenstherapie hat sich bei Fatigue als wirksam erwiesen. Auch Angehörige können sich an die entsprechenden Anlaufstellen wenden.
Nutzen Sie den psychoonkologischen Dienst Ihrer Klinik!
Viele Kliniken, die Menschen mit Krebs behandeln, bieten psychoonkologische Dienste und Beratungen an. Sie ersetzen zwar keinen Therapieplatz, bieten aber „Erste Hilfe“ und vermitteln Ihnen wohnortnahe Kontakte. Erfahren Sie mehr über psychoonkologische Hilfe und Anlaufstellen:
Gibt es auch medikamentöse Behandlungsansätze von Fatigue bei Krebs?
Dr. Schmidt: Generell zeigen nicht-pharmakologische Interventionen einen besseren Effekt, daher wird der Einsatz von Medikamenten nur in Ausnahmefällen empfohlen, wenn im fortgeschrittenen und palliativen Stadium mit anderen Maßnahmen keine Linderung zu erreichen ist. Allgemein wird jedoch nicht zur medikamentösen Behandlung geraten.
An welche weiteren Behandlungsmöglichkeiten sollten Betroffene denken?
Dr. Schmidt: Einigen Betroffenen hilft es ein Fatigue-Tagebuch zu führen, um sich bewusst zu werden, wann sie besonders müde sind, welche Aktivitäten erschöpfen oder auch helfen, um wieder Energie zu sammeln. Etwa eine Woche lang dieses Tagebuch zu führen, liefert erste Erkenntnisse über den aktuellen Status. Regelmäßig geführt, können Betroffene feststellen, ob die Situation sich möglicherweise verbessert hat.
Auch das Körpergewicht spielt eine Rolle bei der Behandlung von Fatigue: Studien zeigen, dass starkes Übergewicht mit mehr Erschöpfung einhergeht – auch unabhängig vom Krebs. Es ist also empfehlenswert, Übergewicht und Adipositas zu vermeiden.
MERLIN-Studie des dkfz zur krebsbedingten Erschöpfung
Frau Dr. Schmidt, Sie sind koordinierende Studienleiterin der MERLIN-Studie des DKFZ zu krebsbedingter Erschöpfung.
Was genau wird in der MERLIN-Studie untersucht?
Dr. Schmidt: In klinischen Leitlinien wird empfohlen ein regelmäßiges und systematisches Screening auf Fatigue bei Krebspatientinnen und Krebspatienten durchzuführen. Da bislang aber genaue Hinweise fehlen, wann, wie oft und wie lange ein solches Screening stattfinden soll, möchten wir mit der MERLIN-Studie dafür die Datengrundlage schaffen um anschließend Hinweise geben zu können, wie ein gutes Fatigue-Screening aufgebaut sein könnte. Ziel ist es, damit langfristig eine Fatigue-Früherkennung zu ermöglichen, die wir in der klinischen Praxis umsetzen können.
In der Studie ermitteln wir also die besten Screening-Fragen, die richtigen Cut-Off Werte und zu welchem Zeitpunkt das Screening idealerweise stattfinden sollte. Eine weitere Aufgabe besteht darin, ein möglichst einfaches Screening zu entwickeln, um weder Patientinnen und Patienten noch Kliniken zu stark zu belasten.
Wie kann sich eine interessierte Person die Studienteilnahme vorstellen?
Dr. Schmidt: Nachdem sich die interessierte Person auf der MERLIN-Seite über das Kontaktformular gemeldet oder unser Studienteam per Mail unter merlin@dkfz.de kontaktiert hat, wird sie oder er von unseren Mitarbeitenden telefonisch kontaktiert und über die Studienteilnahme aufgeklärt. Sobald wir den unterzeichneten Aufklärungsbogen erhalten haben, bekommt jeder Teilnehmende einen Link mit Logindaten für ein komfortables Online-Studienportal, über das in unterschiedlichen Zeitabständen Fragebögen online per Smartphone, Computer oder Tablet zur krebsbezogenen Erschöpfung beantwortet werden.
Sollte sich eine Teilnehmerin oder ein Teilnehmer im Laufe der Studie entscheiden, nicht mehr teilnehmen zu wollen, ist dies selbstverständlich ohne Angabe von Gründen möglich.
Die Studie dauert insgesamt 18 Monate und die Teilnehmenden erhalten in unterschiedlichen Zeitabständen Screeningfragen oder Fragebögen. Hauptsächlich handelt es sich um kurze Erhebungen, die in 1 bis maximal 5 Minuten beantwortet sind. Innerhalb der 18 Monate bekommen die Teilnehmer fünf ausführliche Fragebögen, deren Beantwortung in etwa 15 Minuten in Anspruch nimmt. Die Beantwortung dieser Bögen muss nicht am Stück erfolgen, sondern kann gespeichert und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden.
Wie können Krebspatientinnen und Krebspatienten von ihrer Teilnahme an der MERLIN-Studie profitieren?
Dr. Schmidt: In ihrem Online-Studienportal finden die Teilnehmenden auch weitere Tipps und Informationen zum Umgang mit Fatigue bei Krebs, die auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Zudem finden Sie dort Anlaufstellen, an die sich die Teilnehmenden wenden können, wenn sie sich Unterstützung im Umgang mit Erschöpfung oder mit der Krebserkrankung im Allgemeinen wünschen sowie Achtsamkeitsübungen und Meditationen.
Außerdem erhalten Sie eine Übersicht und Verlaufskurve der Screeningfragen. Vielen Patienten fällt es schwer, in der kurzen Zeit des Arztgespräches ihre Probleme zu schildern. Diese Übersicht unterstützt sie bei der Kommunikation mit den Ärztinnen und Ärzten. Sie kann ein Hilfsmittel sein, um mit ihren Behandlungsteams über ihre krebsbezogene Erschöpfung und der Verlauf der Fatigue anhand ihrer Daten zu sprechen und gegebenenfalls früh belastenden Symptom entgegenzuwirken.
Neben den persönlichen Vorteilen der Studienteilnahme tragen sie außerdem maßgeblich dazu bei, die Screeningmöglichkeiten zur Erkennung einer Fatigue bei Krebs zu verbessern und so hoffentlich im klinischen Alltag ein Früherkennungsprogramm für Fatigue bei Krebs etablieren zu können, das künftigen Patientinnen und Patienten hilft.
Wer darf an der MERLIN-Studie teilnehmen? Alle Krebspatientinnen und Krebspatienten, unabhängig von der Krebsart, die kurz vor oder am Beginn einer Krebstherapie stehen und in den letzten 6 Monaten keine andere Krebstherapie erhalten haben. Auch Betroffene mit neu aufgetretenem Rezidiv können an der Studie teilnehmen, sofern sie in den letzten 6 Monaten keine Krebstherapie hatten.
- Alter: Ab 18 Jahren
- Ort: bundesweite Online-Erhebung
- Dauer: 18 Monate
Anmeldung: Die Anmeldung ist über merlin.dkfz.de möglich. Bitte geben Sie über das Kontaktformular Ihre Daten an und die Mitarbeitenden der MERLIN-Studie kontaktieren Sie für eine unverbindliche Studienaufklärung.
Weitere Informationen finden Sie im Flyer der MERLIN-Studie
Zum Abschluss: Welchen Rat oder Tipp würden Sie einer von Fatigue betroffenen Person oder einer Person, die bei sich eine Fatigue vermutet, geben?
Dr. Schmidt: Falls Sie betroffen sind, finden Sie den Mut, die Erschöpfung bei Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt anzusprechen. Sie können Ihre Symptome und Beschwerden auch beim psychoonkologischen Dienst ansprechen. Dort ist mehr Zeit und Raum, um Rat für Ihre Erschöpfung zu finden. Trauen Sie sich ruhig zu fragen, denn niemand muss sich mit belastenden Symptomen abfinden, man kann etwas dagegen tun.
Weiterführende Informationen
(Abruf am 22.12.2022)
- ESMO Leitlinie: Cancer-related fatigue: ESMO Clinical Practice Guidelines for diagnosis and treatment
- NCT Heidelberg: Broschüre Erschöpfung bei Krebs FATIGUE
- Bildverweise: Logo MERLIN-Studie – DKFZ, Bild Frau Dr. Martina Schmidt – privat, envato elements Bilder Copyrights: ShintarTatsiana, vershinka_com, stevanovicigor
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